Schriftstellerin Yanick Lahens: „Die steten Krisen bewirken, dass der Staat immer schwächer wird“

Von Andrea Polimier ("Franckfurter Rundschau")

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Die Schriftstellerin Yanick Lahens spricht im Interview über die Geschichte und den jetzigen Zustand Haitis sowie die Rolle der Intellektuellen.

Frau Lahens, über die Lage in Haiti wird in der Regel in extremen Bildern gesprochen. Auch Ihr jüngst in deutscher Sprache erschienenes Buch beschreibt genau die inzwischen anarchische Realität des Karibikstaates. Der Titel des Buches klingt jedoch unvermutet leise: „Douces déroutes“ zu Deutsch „Sanfte Debakel“, warum gibt es diese Diskrepanz?

Abwege sind nicht immer abrupt. Die Prozesse, die das Leben in dieser Gesellschaft verändert haben, gleichen einem sanften Abdriften, alles geschieht im Subtilen. Ich beschreibe einen nahezu unmerklichen Vorgang, ein Gleiten, darum habe ich mich für diesen Titel entschieden.

Als Schriftstellerin ist es nicht Ihre Aufgabe, politisches Zeitgeschehen zu kommentieren. Ihr 2018 in Frankreich publizierter Roman ist jedoch sehr nah an die Jetztzeit herangerückt. Sie haben darin so gewaltsame Ereignisse wie die Ermordung hochrangiger Amtsträger beschrieben. Fragen zu diesem literarischen Werk und zum Zeitgeschehen scheinen fast eins zu sein. Worum ging es Ihnen in diesem Buch?

Ich wollte nicht nur einen Ausschnitt der Gesellschaft beschreiben, sondern die komplexen Netzwerke zeigen, die sich gegenseitig stützen. Im Roman entwerfe ich ein System, in dem alle Klassen vertreten sind. Armut, Korruption, Straffreiheit – alles greift ineinander und wirkt gleichzeitig. Doch trotz des Zerfalls gibt es eine Nische des Widerstands, die Haiti bis heute am Leben hält. Ich mag das Wort Resilienz nicht, aber es gibt etwas, das sich auf die Kreativität der Jugend gründet. Die Jugend verhindert, dass das destruktive System alles komplett vereinnahmen kann.

Ihr Roman beginnt mit dem Abschiedsbrief des Richters Raymond Berthier. Er ahnt, dass er aufgrund seines Kampfes gegen Korruption ermordet werden wird. Warum haben Sie der Figur des Richters diese starke Bedeutung gegeben?

Die Justiz bildet das Rückgrat der Gesellschaft, sie ist die Eingangstür für den Wandel. Doch wenn ich von Justiz spreche, meine ich nicht nur die Rechtsprechung gegen Banden oder korrupte Politiker, sondern auch die soziale Gerechtigkeit, denn die Gesellschaft in Haiti ist seit seiner Gründung und bis heute von extremer Ungleichheit geprägt.

Sie nehmen Einzelschicksale aus unterschiedlichen sozialen Milieus in den Fokus und lenken so den Blick auf schleichende Prozesse individueller Verrohung. Der junge Advokat Cyprien lässt sich beispielsweise durch Ehrgeiz und das Blendwerk der Macht immer tiefer in das korrupte System hineinziehen.

Die Momente, in denen eine Entwicklung kippt, sind für mich am interessantesten. Ich wollte diesen Vorgang einfangen, dessen Ablauf und Rhythmus auf lebensnahe Weise widerspiegeln – sein Abdriften geschieht langsam, nahezu unmerklich.

Zur Person:

Yanick Lahens, geboren 1953 in Port-au-Prince, ist eine haitianische Schriftstellerin und Radiomoderatorin. Sie gilt als eine der bedeutendsten Stimmen und eine führende Intellektuelle Haitis.
Nach dem Studium der Literaturwissenschaften in Paris wurde sie Dozentin für Literatur an der Universität in Port-au-Prince. Sie engagiert sich außerdem in sozialen Projekten.

„Sanfte Debakel“, Lahens’ jüngster Roman (Original „Douces déroutes“, 2018), ist dieses Jahr auf Deutsch bei Litradukt erschienen (übersetzt von Peter Trier, 160 Seiten, 14 Euro).

Welche weiteren Bereiche sind aus Ihrer Sicht relevant für einen Wandel? Gibt es neben Justiz, sozialer Ungleichheit noch andere Bereiche dieses Systems, die zum Abdriften beitragen?

Wenn man nicht weiß, unter welchen Umständen der haitianische Staat gegründet worden ist, kann man die heutige Lage nicht verstehen. Haiti ist in einer Krisenlage entstanden. Es erlangte seine Unabhängigkeit durch den Sieg über die mächtigste Armee jener Zeit. Als erstes Land des Südens hat es das Projekt der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – radikalisiert und eine auf dem transatlantischen Sklavenhandel gegründete Modernität in Frage gestellt. Haiti wurde zu einem Modell, das man von außen mit einem Embargo und einer repressiven Schuldenpolitik bekämpfte.

Versklavte haben sich aus der französischen Kolonialherrschaft befreit und nach einem Sieg über die napoleonischen Truppen 1804 die Republik Haiti gegründet.

Haiti ist ein paradoxer Staat. Die Bevölkerung Haitis hat damals zwar das koloniale System und dessen Logik der Akkumulation von Kapital hinterfragt, sie reproduzierte jedoch im Moment der Unabhängigkeit eben das Modell, das sie zuvor verjagt hatte. Eine mächtige Minorität wollte damals die Plantagenwirtschaft weiterführen, während die Mehrheit eine volksnahe „autre monde“ errichten wollte. Eine kleine Elite reproduzierte also den Code Napoléon, man sprach und las Französisch, war katholisch, heiratete und lebte im westlichen Stil innerhalb einer bürgerlichen Familie. Die Mehrheit jedoch wohnte nach Art der „placage“ in Gemeinschaften, ohne zu heiraten, man sprach Kreolisch und folgte dem Voudou. Wohneinheit war „la cou“, der Hof. Zwischen beiden Gruppen gab es keinerlei Kommunikation, es war eine Art „Dialog zwischen Gehörlosen“. Heute jedoch dringt die Welt, die man das „pays en dehors“ nennt, zunehmend in das „pays du dedans“ ein, es gibt einen Exodus vom Land in die Stadt. Die junge, mit dem Ausland über soziale Netze verbundene Generation fordert nun gegenüber Gesetzgebung und Justiz ihr Existenzrecht ein, sie erwartet Zugang zu Schulen, zu Wasser und Strom. Wenn man die Geschichte Haitis anschaut, sieht man, dass die Landbevölkerung seit jeher ihr Recht auf Existenz eingefordert hat. Migrationsbewegungen haben in Haiti bereits vor langer Zeit begonnen, sie sind kein neues Phänomen der Gegenwart. Die steten Krisen bewirken, dass der Staat immer schwächer wird. Es ist ein Staat, der niemals für die Mehrheit der Bevölkerung zugänglich war.

Wie kann man Veränderung bewirken?

Indem man einen Pfad baut, der beide Bereiche – das Land von Draußen und die Welt der sogenannten Eliten – verbindet.

In Ihrem Roman gibt es die Figur des reichen Händlers Sami Hamid. Hat sich auch die „Machtelite“ verändert?

Die traditionelle Bourgeoisie hatte feste Werte, kannte die Geschichte des Landes und war nationalistisch geprägt. Heute beobachtet man das Emporkommen einer Gruppe, für die vor allem das Geld zählt. Teile des wohlhabenden Bürgertums sind inzwischen von beispielsweise syro-libanesischen Unternehmern ersetzt worden, diese verfügen heute über die ökonomische Macht. Zeitgleich mit ihrer Machtübernahme erfolgte eine zunehmende Kriminalisierung staatlicher Institutionen. Je schwächer diese Institutionen sind, umso stärker gewinnt die „Mafia“ an Raum. Bandenkriminalität, der Handel mit Waffen und Drogenhandel wuchern. Sie alle verhindern, dass der Staat seine Macht zurückgewinnt.

In „Sanfte Debakel“ sprechen Sie von „internationaler Einmischung und lokaler Komplizenschaft“. Welche äußeren Kräfte mischen in diesem Prozess mit?

Ein kleines Land wie Haiti kann nicht allein über sein Schicksal entscheiden, das muss jedem klar sein. Was in Haiti jedoch heute fehlt, sind Angebote der Politik zu Bildung, Agrarwirtschaft, etc. Es gibt Leute, die an diesem politischen Angebot arbeiten. Ein politisches Programm ist neben Sicherheit und einem Wahlkomitee die Prämisse für demokratische Wahlen. Man darf nicht mit Konzepten kommen, die von außen entwickelt wurden, das wird in Haiti nicht funktionieren. Es gibt ein lokales Wissen, auf dessen Basis man das moderne mit dem lokalen Leben verbinden kann.

Welche Bedeutung hat das Kreolische für diese Entwicklung?

Im bürgerlichen Milieu meiner Generation, zu der auch Dany Laferrière und Lyonel Trouillot gehören, gab es keine Startsprache, in der man alle Erfahrungen gemacht hat. Vor allem den Mädchen war es in diesen Familien verboten, Kreolisch zu sprechen. Zielsprache war das Französische. In der neuen Generation ist das Kreolische die Startsprache. Die Eltern sprechen Kreolisch, es gibt keine Bibliothek mit ausschließlich französischsprachigen Büchern. Wenn diese Gruppe in kreolischer Sprache schreibt, spürt man den Unterschied. Es gibt im Kreolischen ausgeprägtere Nuancen, die das volkstümliche Denken transportieren können. Es hat also eine neue Positionsbestimmung der Sprachen gegeben. Kreolisch ist zur Ausgangssprache geworden. 98 Prozent der Radiosender senden inzwischen Kreolisch und ersetzen auf diesem Weg öffentliche Institutionen. Wenn sich beispielsweise die Bewohner eines Viertels beschweren wollen, weil ihr Viertel seit einer Woche ohne Strom ist, nutzen sie hierfür das Radio.

Welche Rolle haben in diesem politischen Prozess Schriftstellerinnen und Schriftsteller?

Das Gewicht der Intellektuellen hat sich in allen Staaten verschoben. Der haitianische Autor Jacques Stéphen Alexis hätte vor sechzig Jahren noch eine Revolution bewirken können, das wäre heute durch einen Schriftsteller nicht mehr möglich.

Dennoch haben Sie 2019 zusammen mit haitianischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern unter der Überschrift „Haiti bloqué“ einen Appell an die Welt gerichtet und den Rücktritt des Präsidenten gefordert.

Selbst damals habe ich das Gewicht, das der Stimme der Schriftsteller zukommt, für sehr mäßig gehalten. Für einen Mafioso sind wir komplett bedeutungslos. Es gibt jedoch eine Jugend, die enorm kreativ ist. Der junge Dichter Ricardo Boucher schreibt seine Gedichte zum Beispiel nicht auf Papier, sondern sprayt sie für alle sichtbar an die Wand. Seit Jahrzehnten gibt es bereits Literaturclubs sowie renommierte Theater- und Jazzfestivals. Die Jugendlichen greifen diese kreative Tradition auf, sie schließen sich zusammen und folgen ihren Träumen. Das ist keine Flucht, sondern ein Ventil und eine eigene Art, trotz der schlechten Zeiten zu leben.

Interview: Andrea Pollmeier

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